Projekt New Materiality: Things – Environment – Human-Animal-Relations

Ziele und Aufgaben der Projektkommission

Der Workshop „New Materiality: Things – Environment – Human-Animal-Relations“ gehört zu den Aktivitäten des interdisziplinären und epochenübergreifenden Forschungsnetzwerks „Work – Love – Violence. Rural Societies and New Research Perspectives“, das am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas von der Projektgruppe „Ländliche Gesellschaften in Ostmitteleuropa in der Neuzeit (am Beispiel Polen)“ (geleitet von PD Dr. Dietlind Hüchtker, GWZO/Prof. Dr. Michael G. Müller, MLU Halle-Wittenberg) betrieben wird. Der Workshop führt Mitglieder des Herder-Forschungsrates, Nachwuchswissenschaftler/innen, Post-docs und erfahrene Forscher/innen zum Thema „Ländliche Gesellschaften“ zusammen. Ziel ist es, sich über die Konzeptionalisierung von Materialität in der kultur-, sozial- und geschichtswissenschaftlichen Forschung auszutauschen und anhand konkreter Fallstudien über die sich aus den Konzepten ergebenden Probleme zu diskutieren. Regionaler Schwerpunkt ist Polen in seinen unterschiedlichen historischen Ausdehnungen und unter Einbeziehung der (ost-)mitteleuropäischen Nachbarlandschaften. Die Region kann als eine Transitregion aufgefasst werden, die Ost- und Westeuropa verbindet. Sie umfasst nicht nur eine dominierende „westliche Kultur“, sondern auch das „marginalisierte, kolonisierte Andere“, die Geschichte von drei Imperien, von Kolonisierten und Kolonisierenden gleichermaßen. Zu ihr gehören Grenzgebiete, nichtkultivierte Berglandschaften und Urwälder ebenso wie Regionen, die durch Städte und Dörfer geformt sind. In einigen Teilen hinterließen feudale Strukturen ihre Spuren, in anderen freie Dörfer, Gemeinschaften von bewaffneten Grenzbauern (Kosaken) oder relativ isolierte Bergwirtschaften. Die agrarisch geprägte Region gilt seit der Aufklärung mehr oder minder per se als rückständig, die Romantik idealisierte die Bauern und das Ländliche als Basis der neu erfundenen Nationen. Eine regionale Konzentration ohne feste politisch-geografische Grenzen fokussiert die Gruppe auf den methodisch-sachlichen Zugang. Gleichzeitig werden das Ländliche und die (nicht essentialistisch gedachte) ostmitteleuropäischen Region bewusst in den Blick genommen, um neue Perspektiven und Fragen anhand von peripheren Räumen zu diskutieren. Geplant ist, die Ergebnisse für ein Zeitschriftenthemenheft aufzuarbeiten.

Forschungsfeld: Der den Workshop dominierende Untersuchungsraum Polen rsp. (Ost-)mitteleuropa hat eine lange agrargeschichtliche Tradition, die aus der Bedeutung der Bauern für die Erfindung von Nationen und der Entstehung nationaler Bewegungen resultierte. In der Zeit des Staatssozialismus bot die Agrargeschichte relativen Freiraum für eine fundierte Struktur- und Sozialgeschichte, debattiert worden sind Themen wie Feudalgesellschaft und gutsherrschaftliches Wirtschaften. Seit der Wende gehören zu den wichtigsten Forschungsfeldern politische Themen wie die Verfasstheit der Polnisch-Litauischen Union, die Feudalgesellschaften und die Integration bäuerlicher Schichten in die politisierte Nation des 19. Jahrhunderts.

Insgesamt haben lange Analysen der sozialen Strukturen dörflicher Gesellschaften, Herrschaftsstrukturen und Rechtsverfassungen, Politisierung und Nationalisierung des Landes sowie Wirtschaftsweisen die Forschung dominiert. Hinsichtlich der Siedlungsgeschichte sowie Verkehrstechniken, Ernährungsgewohnheiten u.a. hat die Mittelalter-Archäologie das Wissen bereichert. Seit einigen Jahrzehnten sind ländliche Gesellschaften darüber hinaus zu einem Feld der Gegenerzählungen geworden. Dorfstudien mit mikrogeschichtlichem Ansatz dekonstruierten die modernisierungstheoretischen Großerzählungen, haben Einsichten in die Welt der „kleinen Leute“, die „andere Welt“ der Frühen Neuzeit eröffnet. Literaturwissenschaftliche Untersuchungen haben die Bedeutung von Dorfgeschichten als Gegenwelt zu Moderne und Großstadt untersucht.

Umwelt, Naturgegebenheiten, Klimaschwankungen und Bodenbeschaffenheit oder auch die strukturelle Unterscheidung zwischen Ackerbau und Tierzucht spielen eine grundlegende Rolle in den Forschungen zu ländlichen Gesellschaften. Die Natur-Gegebenheiten wie auch die Materialität der Fundstücke werden jedoch zumeist als vorausgesetzt, als gegebene Rahmungen (framing) historischer Entwicklungen begriffen. Diesen Gegensatz zwischen Kultur und Natur hat der linguistic turn infrage gestellt. Es wird davon ausgegangen, dass Natur, Landschaft und Materialität wie Geschichte und Gesellschaft kulturell produziert sind durch wirklichkeitskonstituierende sprachliche und nicht-sprachliche Symbolsysteme, wobei unter kultureller Produktion nicht nur kognitiv hergestellte Zeichen, seien es gesprochene oder geschriebene Worte, Piktogramme oder Bilder verstanden werden, sondern auch das leibliche Handeln.

Die Annahme, dass jedes leibliche Handeln kulturell produziert wird, hat dazu geführt, dass die Selbstverständlichkeit, mit der der Mensch als Subjekt und Objekt sozialer Prozesse und kultureller Produktionen gedacht wird, infrage steht. Die Grenze zwischen menschlichen Akteuren und nicht-menschlicher Natur ist nicht mehr eindeutig. Auch unter dem Eindruck von Klimakatastrophen und Umweltproblemen gehen aktuelle Überlegungen dahin, die Beziehungen zwischen Natur- und Kulturgeschichte neu zu denken. Umweltstudien haben den Blick auf die Bedeutung von Klima, Artenvielfalt und natürliche Gegebenheiten der Erde gelenkt, die Human-Animal-Relation-Studies thematisieren die Rolle von Tieren, die Technikforschung hebt künstliche Intelligenz als einen zentralen Faktor des Wandels hervor. In der Wissenschaftsforschung hat die Akteur-Netzwerk-Theorie menschliche Akteure um Aktanten (nicht-menschliche Objekte) erweitert, denen eine ebenso große oder zentrale Bedeutung für Soziabilität und Geschichtsmächtigkeit zugesprochen wird. Diese Überlegungen stellen die kulturelle Konstruktion von Natur nicht grundsätzlich in Frage, jedoch löst sich aus dieser Perspektive eine kulturell konstituierte Welt auch nicht in der Analyse von symbolischen Systemen des Kognitiven und des Leiblichen auf.

Drei methodische und konzeptionelle Schwerpunkte kann man in den Debatten über Materialität als Gegenstand und Konzept kultur-, sozial- und geschichtswissenschaftlicher Forschung ausmachen. Schon 1986 erschien der von Arjun Appadurai herausgegebene Sammelband The Social Lifes of Things, der die Ware in ihrer Materialität, nicht ihre Funktion in den Mittelpunkt sozialwissenschaftlicher Untersuchungen gestellt und damit den Wandel der Bedeutung von Dingen, ihr soziales Leben, ihre Historizität, aufgezeigt hat. Inzwischen kann die Geschichtsmächtigkeit von Dingen als intensiv und interdisziplinär diskutiertes Forschungsfeld gelten. Insbesondere Forschungen zu Mittelalter und Früher Neuzeit haben die symbolischen und materiellen Deutungsebenen verbunden, über die Materialität des Symbolischen wird ebenso nachgedacht wie über die Symboliken von Materialität. Die relativ neuen Human-Animal-Relation-Studies beanspruchen für sich, nicht nur einen bislang wenig behandelten Forschungsgegenstand ins Zentrum zu rücken, sondern auch, die bisherige Akteurskonzeption als Anthropozentrismus dekonstruiert zu haben. Am umfangreichsten sind inzwischen die Forschungen zur Umweltgeschichte, wobei Umweltbewegungen, Umweltschäden, Katastrophen und eingreifende Maßnahmen wie Deichbauten und Stauseeen vermutlich dominieren, womit Natur eher als Hintergrundfolie für soziale und historsche Prozesse (etwa neue soziale Bewegungen, Technikfolgekritik, social engineering) gesehen wird.

Der ländliche Raum findet in allen diesen Ansätzen seinen Niederschlag, er wird aber zumeist als ein Container vorausgesetzt, seine Bedeutung und seine Grenzen werden nur selten explizit problematisiert. Die Konzeptionalisierungen von Materialität, Natur, Landschaft, Wildnis, Umwelt, von den Beziehungen zwischen Mensch und Tier und des „sozialen Lebens der Dinge“ wie Werkzeuge oder Güter für ländliche Gesellschaften zu diskutieren, erscheint daher als eine im doppelten Sinn Erkenntnisgewinn bringende Herausforderung. Einerseits sind insbesondere die ländlichen Gesellschaften, verstanden als Umgang mit Natur, prädestinierter Gegenstand, Natur-Kuturbeziehungen neu zu denken, andererseits ist Materialität, wie oben angedeutet, immer schon Teil der Forschungen zu ländlichen Gesellschaften gewesen. Mit dem Workshop sollen diese Fragen aufgegriffen und explizit auf den ländlichen Raum Polens und (Ost-)mitteleuropas bezogen werden.